Flechtenforscher erforschen die seltsamsten Organismen im Erzgbirge

Die erzgebirgische Flora dominieren heute Blütenpflanzen wie unsre heimischen Bäume, Sträucher und die Mehrzahl der Kräuter. Altertümliche Pflanzen wie die Schachtelhalme und Bärlappe, die heute nur noch ein Nischendasein führen, prägten jedoch vor Jahrmillionen das Vegetationsbild auch in dem Raum, welcher später das Erzgebirge werden sollte. Einige Organismen aber fristeten seit ihrem Auftauchen auf dem Erdball immerfort ein Schattendasein. Dementsprechend spät registrierte der Mensch auch ihre Existenz. Die wohl Seltsamsten unter diesen pflanzlichen Lebewesen sind die Flechten (Lichenes). Aufgrund ihrer Unscheinbarkeit und Seltenheit in der erzgebirgischen Natur werden sie von den meisten Wanderern wohl übersehen oder für Moose gehalten. Doch gab es auch schon seit dem späten Mittelalter Heimatforscher, welche sich mit dieser Organismengruppe im Erzgebirge auseinandersetzen. Vornehmlich waren es früher erzgebirgische Lehrer, Pfarrer, Ärzte oder Apotheker, welche die erzgebirgische Flechtenflora in ihren Herbarien dokumentierten. 2020 waren es die Kinder und Jugendlichen am Haus der Kammbegegnungen, welche die Flechten genauer unter die Lupe nahmen.

Der weiten Verbreitung der Flechten und ihrer fast unglaublichen Widerstandsfähigkeit aber ungeachtet stellen gerade diese Lebewesen die wohl am stärksten gefährdete Organismengruppe im Erzgebirge dar. Weltweit werden mehr als 16 000 Flechtenarten geschätzt, jedoch kennt man schon zahlreiche Gebiete auf der Erde, die praktisch flechtenfrei sind. Der Grund dafür ist in der extremen Sensibilität der Organismen Luftverschmutzungen gegenüber zu suchen. Luftverunreinigungen wie Schwefeldioxid aus den Abgasen der Verbrennungsprozesse in Industrie und Haushalt sowie saurer Regen machen den Flechten am meisten zu schaffen. Insbesondere die Rauchgase der Braunkohlekraftwerke im Böhmischen Becken haben in der Vergangenheit Flechten im Erzgebirge äußerst selten werden lassen. Verschwunden sind die dichten Flechtenbehänge der Bäume, die früher im Erzgebirge ein alltägliches Bild abgaben, sowie die dichten Matten an nährstoffarmen Bodenstandorten. An letzteren Standorten kommen nun auch noch die neuerlichen Schadensprobleme wie Überdüngungseffekte durch die Stickoxide aus dem Straßenverkehr und der Landwirtschaft hinzu. So gehört das Erzgebirge wohl zu den Regionen Europas mit der am stärksten gestörten Flechtenvegetation.

Diese ausgesprochen sensible Reaktion gegenüber Luftschadstoffen haben Flechten zu einer traurigen Berühmtheit verholfen: schon Ende des 19. Jahrhunderts erkannte man, dass Flechten als Indikatoren für die Qualität der Luft dienen können. Inzwischen hat sich die Kartierung epiphytischer Flechten in Mitteleuropa zu einem Standartverfahren für die Darstellung der biologisch und für den Menschen relevanten Immissionssituation entwickelt.

Flechten reagieren deshalb so sensibel auf Luftbelastungen, da sie eigentlich keine einheitlichen Organismen darstellen, sondern Assoziationen aus Pilzen mit Algen oder (Cyano)Bakterien. Damit nehmen sie eine Sonderstellung im Pflanzenreich ein. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte die Wissenschaft dank der verfeinerten Mikroskopiertechnik diese wahre Natur der Flechten. Das Zusammenleben der einzelnen Partner ist derart eng, dass insbesondere der Pilz allein nicht mehr lebensfähig ist. Neueren Ansichten zufolge liegt hier eine Art Miniaturökosystem vor, da unter anderem mehrere Partner beteiligt sein können und sensibel ausbalancierte Nährstoffflüsse vorliegen, welche durch die Luftschadstoffe gestört werden.